Die überforderte Gesellschaft

Meinhard Miegel stellt bedrückende Fragen über unsere "überforderte" Gesellschaft und deren Umgang mit ihren Ressourcen und ihrer Zukunft.

Was wer­den die heuti­gen Kinder und Jugendlichen denken, wenn sie, dere­inst alt gewor­den, auf die Jet­ztzeit zurückschauen? Was wer­den die Men­schen in 100 oder 150 Jahren denken? Wer­den sie sie ähn­lich bewun­dernd-fasziniert, erschrock­en-angewidert oder ver­ständ­nis­los-kopf­schüt­tel­nd betra­cht­en, wie wir heute auf frühere Epochen der Men­schheits­geschichte blick­en? Wer­den sie denken: Das war eine große Zeit, ein wirk­lich­er Meilen­stein in der Entwick­lung men­schlich­er Kul­tur und Zivil­i­sa­tion? Oder wer­den sie denken: Was für ein Nieder­gang, welche geistige Leere bei materieller Fülle?

Dies vorherzusagen ist unmöglich. Aber es darf spekuliert und Wahrschein­licheres von Unwahrschein­licherem geschieden wer­den. Wahrschein­lich wer­den sie denken: Noch so eine Ide­olo­gie so ein Denk- und Hand­lungsmuster, aus dem die Men­schen Lebenssinn zu ziehen sucht­en – und aber­mals verge­blich. Auf den Gedanken, dass dieses Muster der „Natur des Men­schen“ gemäß gewe­sen sei, dürften sie indes kaum kom­men. Denn dazu ist dieses Muster zu irra­tional und bizarr, zu lebens- und men­schen­feindlich. Das kön­nen die Dama­li­gen, so wer­den sie hof­fentlich denken, doch nicht wirk­lich gemeint und gewollt haben. Der Men­sch ist doch ein ver­nun­ft­be­gabtes Wesen. Aber sie wer­den – soll­ten sie sich für die Jet­ztzeit über­haupt inter­essieren – zweifeln und fragen:

Warum haben Men­schen, die mit materiellen Gütern reich geseg­net waren, diese immer weit­er zu mehren ver­sucht, obwohl sie dadurch wed­er glück­lich noch zufrieden­er wur­den? Warum unter­nah­men sie alles, um ihren Anteil an der Welt­güter­menge noch zu erhöhen, obwohl ihnen das meiste ohne­hin bere­its zufloss? Warum beschädigten sie ihre und die Lebens­grund­lage aller anderen Men­schen, um ein Wach­s­tum der Wirtschaft zu ermöglichen, das sie gar nicht mehr benötigten? Warum verteil­ten sie die Früchte gemein­samer Arbeit glob­al und bin­nen­staatlich so ungle­ich, dass Verteilungskon­flik­te fast zwangsläu­fig waren?

Warum gaben sie sich mit Mobil­itäts- und Sied­lungs­for­men zufrieden, die weit unter­halb ihrer tech­nis­chen, ökonomis­chen und ästhetis­chen Möglichkeit­en lagen und ihre Leben­squal­ität empfind­lich beein­trächti­gen? Warum unter­hiel­ten sie ein Bil­dungssys­tem, das nur ein recht schmales Seg­ment ihrer men­tal­en und emo­tionalen Fähigkeit­en ent­fal­tete, und ver­nach­läs­sigten den Men­schen als Ganzes? Warum nutzten sie nicht die Möglichkeit­en tech­nis­chen Fortschritts, um ihre Arbeit­slast zu min­dern, son­dern steigerten diese bis hinzu Stress und Erschöp­fung? Warum pressten sie darüber hin­aus alle halb­wegs Erwerb­s­fähi­gen in Erwerbsarbeit?

Warum tat­en sie sich so schw­er mit ihrem demographis­chen Wan­del, der doch nicht nur unver­mei­dlich, son­dern auch über­aus chan­cen­re­ich war? Warum fürchteten sie sich davor, Leben­srisiken zu schul­tern, die die Men­schen vor ihnen mit größter Selb­stver­ständlichkeit getra­gen hat­ten? Warum liefer­ten sie sich so bedin­gungs­los einem Staat aus, dem sie mis­straut­en und ver­achteten? Warum verin­ner­licht­en sie Kom­mu­nika­tion­stech­niken, durch die sie lange erstrit­tene Frei­heits- und Schutzrechte verloren?

Warum häuften sie immer höhere Schulden­berge auf, obwohl sie es bere­its zu einem men­schheits­geschichtlich beispiel­losen Wohl­stand gebracht hat­ten? Warum waren sie bere­it, die einzi­gar­tige kul­turelle Vielfalt und Schön­heit ihres Kon­ti­nents ökonomis­ch­er Effizienz und Uni­for­mität zu opfern? Warum strebten sie eine Glob­al­isierung an, die sie wed­er beherrschen noch steuern kon­nten? Warum waren sie so unfähig, das, was sie hat­ten, bess­er zu nutzen und mehr zu genießen? Oder kurz: Warum waren sie so wenig weise?

So oder ähn­lich kön­nten die Nachge­bore­nen auf die Jet­ztzeit zurück­blick­en und sich wun­dern, was für ganz und gar wun­der­liche Men­schen in ihr lebten. Ver­mut­lich wäre das die wohlwol­lend­ste und liebenswürdig­ste Rückschau. Sie kön­nten uns aber auch für die Fülle von Prob­le­men ver­fluchen, die wir verur­sacht und ungelöst an sie weit­ergegeben haben wer­den: eine über­forderte Erde mit ein­er über­forderten Men­schheit. Und sie kön­nten sagen: Was für ein Wahnwitz!
Doch es kön­nte alles auch ganz anders kommen…

Auszug aus: Mein­hard Miegel, Hybris. Die über­forderte Gesellschaft. Propy­läen Ver­lag 2014.

Zum Autor

Prof. Dr. Mein­hard Miegel ist deutsch­er Sozial­wis­senschaftler, Autor und Vor­standsvor­sitzen­der von Denkw­erk Zukun­ft – Stiftung kul­turelle Erneuerung. Er studierte Sozi­olo­gie, Rechtswis­senschaften und Volk­swirtschaft­slehre in Deutsch­land und den USA. 1977 grün­dete er das Insti­tut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn, dem er bis zu dessen Auflö­sung 2008 vor­stand. Im Zen­trum sein­er Arbeit ste­hen die sich wan­del­nden Rah­menbe­din­gun­gen von Wirtschaft und Gesellschaft.