Drei außergewöhn­liche Per­sön­lichkeit­en, drei sehr unter­schiedliche Erfahrun­gen, drei Per­spek­tiv­en auf Mut. In unseren Gesprächen zeigte sich, dass Mut für unter­schiedliche Men­schen ver­schiedene Dinge bedeuten kann.

Was mich im Gespräch mit Man­al al-Sharif am meis­ten beein­druck­te, ist, wie per­sön­lich, vielle­icht auch wie ver­traut unsere Wahrnehmung von Mut zu sein scheint. Nach­dem sie sich den Bräuchen eines Lan­des wider­set­zt hat­te, das für seine bru­tal­en Strafen bekan­nt war, und sich von möglichen katas­trophalen Fol­gen nicht ein­schüchtern hat­te lassen, war ihre eigene Def­i­n­i­tion von Mut ganz nach innen gerichtet. Sie begann bei sich, stellte die Überzeu­gun­gen in Frage, die ihr sehr wichtig gewe­sen waren, die Überzeu­gun­gen ihrer Fam­i­lie und ihrer Gemein­schaft, und ent­deck­te eine ganz neue Welt der Auseinan­der­set­zun­gen und Möglichkeit­en. Das war ihrer Mei­n­ung nach viel mutiger, als gegen die Anweisun­gen der Regierung ein Auto zu lenken, als festgenom­men und einges­per­rt zu werden.

DIE SCHWIERIGSTE ART VON MUT IST, DER REALITÄT INS AUGE ZU SEHEN.

Es gibt jedoch auch Men­schen, die glauben, dass es richtig ist, basierend auf ihrem Hass auf andere zu han­deln, dass es ehren­haft ist, auf dem Schlacht­feld zu ster­ben – und zu töten. Gibt es etwas, was deren Mei­n­ung von denen unter­schei­det, die glauben, dass wir mutig dabei sein müssen, Frieden zu schaf­fen, das Gespräch zu eröff­nen und aufrechtzuer­hal­ten, andere zu respek­tieren, auch wenn wir ganz grundle­gend ander­er Mei­n­ung sind?

Was also ist Mut? Ist er an sich wertvoll? Kann ein Selb­st­mor­dat­ten­täter mutig sein? Ein Ter­ror­ist? Und würde er als mutig erscheinen, wenn wir ihn als Wider­stand­skämpfer sähen, der für eine wichtige Sache stirbt, die wir selb­st unterstützen?

Diese Ambivalenz wurde durch den jun­gen palästi­nen­sisch-syrischen Pianis­ten Aeham Ahmad her­vorge­bracht, der uns mit der Notwendigkeit mutiger Entschei­dun­gen in Sit­u­a­tio­nen exis­ten­zieller Gefahr kon­fron­tierte – und mit ihren zweis­chnei­di­gen Kon­se­quen­zen. Nach­dem er sein eigenes Leben riskiert hat­te, um in den Trüm­mern zu spie­len, war er sich bewusst, dass seine möglicher­weise rück­sicht­slosen Hand­lun­gen sein­er Frau den Ehe­mann und seinen Söh­nen den Vater hät­ten kosten kön­nen. Er erzählte, dass ein­mal ein kleines Mäd­chen seinem Klavier­spiel zuhörte und dabei vor seinen Augen von einem Scharf­schützen erschossen wurde. Dieses Erleb­nis ver­fol­gt ihn.

UNS IN EUROPA WIRD HEUTZUTAGE GESAGT, DASS WIR KRITISCH SEIN SOLLEN, NICHT MUTIG.

Aeham Ahmad beleuchtete auch die Selb­st­ge­fäl­ligkeit reich­er und in Frieden leben­der Gesellschaften im Umgang nicht nur mit für sie nüt­zlichen Heldin­nen und Helden, son­dern auch mit den Sit­u­a­tio­nen, aus denen sie entste­hen. Er sprach über den deutschen Geist, der seine schreck­liche Geschichte in eine poet­is­che Helden­tat ver­wan­delte, in der er sich selb­st nicht wieder­erkan­nte. Es war offen­sichtlich, dass er sich unwohl fühlte bei dem Gedanken, dass seine Geschichte als Gebrauch­sar­tikel zum Nutzen für die Men­schen in dem Land, das ihn aufgenom­men hat­te, diente.

Der Filmemach­er Ste­fan Ruzow­itzky wieder­holte diese Bedenken. Wie er erk­lärte, ist er fasziniert von den psy­chol­o­gis­chen Aspek­ten von Mut ver­sus Kon­for­mität. Waren Sol­dat­en, die sich dazu entschlossen hat­ten, an Massen­mor­den teilzunehmen, nur um Respekt von ihren Kol­le­gen zu gewin­nen, von Natur aus gewalt­tätige Krim­inelle oder waren sie ein­fach ganz nor­male Men­schen, die sich anpassen mussten, selb­st wenn die Norm, der sie sich anpassen woll­ten, unmen­schlich war?

Ste­fan Ruzow­itzky analysierte, dass Kon­for­mität ein­deutig einen wichti­gen Platz in jed­er funk­tion­ieren­den Gesellschaft ein­nimmt. Gle­ichzeit­ig kön­nte aber keine Gesellschaft je Fortschritte machen ohne die, die von aus­ge­trete­nen Wegen abwe­ichen, um neue Wege zu find­en. Wie ist es möglich, solchen Mut zu fördern? Ein Teil der Antwort muss im Geschicht­en­erzählen liegen, sagt er. Geschicht­en geben uns den Rah­men für unsere Hand­lun­gen und sog­ar für unsere Emo­tio­nen. Sie sind das Medi­um, das die Prinzip­i­en und Werte darstellt, die im Fall der Fälle umge­set­zt wer­den oder nicht.

FÜR EINE MUTIGE TAT GIBT ES KEINE ANLEITUNG.

Was Mut für die Gesellschaft wertvoll macht, ist also nicht, die Angst selb­st zu über­winden, son­dern sie aus Grün­den zu über­winden, die die Werte ein­er Gesellschaft oder ein­er Gemein­schaft wider­spiegeln. Die jun­gen Sol­dat­en, die im Ersten Weltkrieg in den Tod gin­gen, tat­en dies mutig und sie waren überzeugt davon, dass sie im Recht waren, dass ihre Vorge­hensweise die einzig moralis­che war.

Da lib­erale Demokra­tien von denen, die alter­na­tive Regierungsmod­elle und andere Sichtweisen auf die Men­schheit ver­fol­gen, bedro­ht wer­den, müssen wir den Mut feiern, sich diesen Kräften ent­ge­gen­zustellen. Aber wir müssen auch über­prüfen, welche Prinzip­i­en unser Han­deln lenken und wozu sie führen kön­nen. Man­al al-Sharif erin­nert uns an diesen entschei­den­den Unter­schied und an die Bedeu­tung von Tol­er­anz, von Offen­heit für Verän­derun­gen und vom Ein­treten für die Idee ein­er offe­nen Gesellschaft.

Aeham Ahmad brachte einen über­raschen­den Gedanken ein. Als Musik­er ist das Konzept der Impro­vi­sa­tion für ihn beson­ders wichtig. Impro­vi­sa­tion ist nur dann erfol­gre­ich, wenn schnelle Entschei­dun­gen auf ein­er soli­den Tech­nik und Erfahrung beruhen. Je stärk­er die Tech­nik, desto mehr kann sich ein Musik­er leis­ten, dem Moment zu ver­trauen, frei zu sein.

Mut und Risikobere­itschaft brauchen Übung, sie müssen auf einem Reper­toire an Erfahrung auf­bauen. Während es leicht ist, die muti­gen Tat­en ander­er zu roman­tisieren, ist es immer schwierig, die Notwendigkeit, mutig zu sein, in jedem Moment zu erken­nen und danach zu han­deln. Aeham Ahmads Vorstel­lung von Impro­vi­sa­tion, 80 % Tech­nik und 20 % Frei­heit, kann nicht nur für Musik­er gel­ten. Vielle­icht muss Mut geübt werden.

Ist es möglich, in Gesellschaften, die Kon­for­mität belohnen, Mut anzuwen­den? Wie kön­nen wir ler­nen, der Stimme unser­er moralis­chen Instink­te zu ver­trauen, wenn wir gle­ichzeit­ig dazu ermutigt wer­den, unsere Iden­tität gemäß unseren Ver­braucher­entschei­dun­gen und unser­er Zuge­hörigkeit zu kom­merziellen Gemein­schaften aufzubauen?

Wieder ein­mal standen wir vor der Frage, welche Werte unser Han­deln unter­mauern. Mut lässt uns Angst und Kon­for­mität über­winden, um nach unseren Prinzip­i­en oder Bestre­bun­gen zu han­deln. Diese Grund­sätze bes­tim­men let­ztlich, ob Mut eine Kraft zum Guten sein kann.