Anita Rieder beschäftigt sich viel mit Überlegungen zur evidenzbasierten Prävention. Was würden wir mit mehr Geld in der Prävention machen? Wie könnten Strategien der Prävention aussehen? „Wenn wir erkranken sind wir froh, dass unsere kurative und diagnostische Medizin so ausgeprägt sind” meint die Public Health Expertin auf die Frage, ob unsere Medizin zu sehr auf Heilung statt Prävention ausgerichtet ist. „Kurative Medizin hat meistens auch Präventionsanteile”, bezieht sich Rieder beispielsweise auf die Verhinderung von Komplikationen und Spätfolgen bei Diabetes-Erkrankten (u.a. Nierenschäden, Augenschäden): „Prävention ist auch das Verhindern von Folgeerkrankungen. Alle Programme, die Gesundheit, Soziales und Bildungswesen gestalten, haben immer auch Präventionsanteile”.
Schlusslicht Österreich
Bei einer Reihe von Präventionsmaßnahmen ist Österreich immer noch Schlusslicht in der EU. „Beispielsweise beim Rauchen und den gesundheitspolitischen Maßnahmen sind wir in Österreich sehr permissiv” zieht Rieder den Vergleich zu wesentlich strikteren Maßnahmen in anderen EU-Staaten. Dass Rauchverbote im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz, etc. auch zu Hause einen Gesundheitseinfluss auf Dritte haben, kann man zum Beispiel an der reduzierten Zahl von akuten Spitalsaufnahmen von Kindern mit Asthma sehen und dass Rauchverbote eine verminderte Zahl von akuten Herzinfarkten provozieren, ist mittlerweile auch bekannt geworden.
Ethik der Gesetze
Rieder sieht es als eine wichtige Aufgabe, das Bewusstsein für die ethischen und rechtlichen Fragestellungen aller gesundheitspolitischer Maßnahmen und von Präventionsprogrammen zu schärfen, Fragen wie zum Beispiel: Wird die richtige Zielgruppe angesprochen und haben diese davon einen Gesundheitsvorteil auf längere Sicht? Werden Bevölkerungsgruppen eventuell sogar unbeabsichtigt benachteilig? Ist das Programm nachgewiesenermaßen effektiv? Die jüngste Debatte um die Fettsteuer ist so ein praktisches Beispiel und der Preis der Lebensmittel auf Basis ihres Anteils gesättigter Fettsäuren. „Wenn man Programme entwickelt und gesundheitspolitische, auch gesetzliche, Regelungen überlegt, muss sozusagen immer an alles gedacht werden”, erläutert die Gesundheitsexpertin die „Effekte — Nebeneffekte-Langzeitfolgen”.
Ernährungsempfehlungen wie vor 50 Jahren
Ein Surprise Factor in ihrem Tätigkeitsbereich ist, dass sich die Ernährungsempfehlungen heute kaum von denen vor 20 bis 40 Jahren unterscheiden, außer natürlich im Detail. Dabei zitiert Rieder einen wissenschaftlichen Beitrag von 1961, in dem die wesentlichsten Risikofaktoren für die Entwicklung von Herzerkrankungen nahezu identisch sind mit denen, die auch noch akzeptiert sind, untermauert wurden und durch neues Wissen nur ergänzt wurden. „Natürlich wissen wir heute mehr, aber es ist überraschend, wie wenig sich in den letzten 50 Jahren verändert hat. Immer noch haben wir ähnliche Empfehlungen wie wir diesen Risikofaktoren entgegentreten können, zum Beispiel durch Änderungen im Ernährungsverhalten”.
Bausteine der Prävention
Prävention funktioniert anders und doch ähnlich wie kurative Medizin. Auch hier ist es wichtig, kulturelle und regionale Faktoren, soziale Einflüsse und Lebensumstände zu berücksichtigen. Ein grundsätzlicher Unterschied liegt darin, dass die Maßnahmen der Prävention sich sehr oft den Bedürfnissen einer größeren Gruppen von Menschen anpassen müssen und nicht nur den Bedürfnissen einer einzelnen Person, zum Beispiel in Programmen der Gesundheitsförderung in Betrieben. Präventionsprogramme sind häufig Mehr-Komponenten-Programme, besonders dort, wo es um Verhaltensänderung geht, zum Beispiel Adipositasprogramme, Lebensstilprogramme. Oder es geht darum, Verhaltensänderung zu unterstützen mit Maßnahmen, um Verhältnisse zu ändern (zum Beispiel Betriebsküchen, Arbeitszeiten, etc.). Wenn es um eine Bevölkerungsstrategie geht, ist es nicht so einfach, den Beweis anzutreten, dass genau diese Strategie zum langfristigen Erfolg führt. „Am Beispiel Adipositas kennen wir bisher keine einzelne Präventionsstrategie, die uns bewiesen hätte, dass wir den Trend in Richtung Adipositas und Übergewicht einer gesamten Bevölkerung umdrehen könnten”. Das heißt nicht, dass es sie nicht geben könnte. Es ändern sich auch laufend die Lebenswelten, so hinkt man mit dem Nachweis des Erfolgs (der Evidenzerbringung) immer hinten nach. „Das wäre in der Tat eine Überraschung, wenn man einmal voraus wäre”, scherzt die gebürtige Oberösterreicherin.
Soziale Verantwortung
Als zentrales politisches Thema für die Zukunft identifiziert Anita Rieder als Priorität soziale Ungleichheiten und gesundheitliche Ungleichheit in den Bevölkerungen, die damit verknüpft ist. Alleine Bildung, Ausbildung und berufliche Position haben Einfluss auf die Lebenserwartung. „Sozialpolitik, Gesundheitspolitik und Bildungspolitik haben gemeinsame Ziele, aber genauso darf die Wirtschaftspolitik sich davon nicht ausnehmen!” Ein zentrales Thema bedeutet politische Verantwortung im Sinne von social responsibility und societal responsibilty: Herausforderungen erkennen, Ziele formulieren und Szenarien zeichnen, dafür Konzepte zu entwickeln und die wesentlichen Entscheidungen vorbereiten. Der Public Health Bereich bietet dafür zahlreiche Beispiele, wie die beschriebene gesundheitliche Ungleichheit, oder das Beispiel der Gefahr einer Grippe-Pandemie. Hier geht es auch um politische Verantwortung von Expertenwissen, da die letzte Entscheidung im politischen und gesundheitspolitischen Sektor immer eine politische sein wird.
Zukunftsperspektiven
Rieder warnt vor dem Erzeugen des Gefühls, dass es nur Verlierer und Gewinner in einer Gesellschaft gibt, was sich sehr rasch entwickeln kann, wenn die Lebenswelten, das Realitätserleben und die Zukunftsperspektiven der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sich immer weiter voneinander entfernen. Vielmehr sollte es um Support und den breiten Zugang zu Chancen gehen, aus denen sich dann auch persönliche Zukunftsperspektiven ergeben.
Entscheidungsprozesse nachvollziehbar machen
„Die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sollten unbedingt die Prozesse und Argumente transparenter machen.” Aus eigenen Berufserfahrungen weiß Rieder, dass vielfach Neues, Verändertes eher konstruktiv diskutiert wird und auch angenommen werden kann, wenn der Entscheidungsprozess nachvollziehbar gemacht wird. Deshalb ist es auch wichtig, viele Gruppierungen mit einzubeziehen. „Die Leute hören eher tatsächlich zu, wenn vielleicht auch erst beim zweiten Mal, wenn man Sachverhalte plausibel und nachvollziehbar argumentieren kann.” Die schwierige Frage ist hier natürlich auch oft, wann genau der richtiger Zeitpunkt ist, alle in die Entwicklungen einzubinden, die aber dann nicht alle verantworten müssen.
Mehr Surprise
ACADEMIE SUPERIOR Mitglied ist Anita Rieder, weil sie den Gedanken der Surprise Factors sehr spannend findet. „Es ist manchmal schwierig, Überraschungen auch zu erkennen und zu erleben, weil wir vielfach schon so abgeklärt sind.” So erwartet sie sich von ACADEMIA SUPERIOR mehr Surprise, nämlich in ihrem Fall auch von scheinbar Selbstverständlichem wieder überrascht zu werden.