Verschläft die Gesellschaft die neue Lebensphase „Freitätigkeit“?

Unsere Gen­er­a­tion ist die erste, die über eine Leben­sphase mehr ver­fügt als alle vorherge­hen­den: die Fre­itätigkeit. Eine Leben­sphase, die es vorher gar nicht gab. Was ist geschehen? Ein Bün­del von Erschei­n­un­gen, von der medi­zinis­chen Vor­sorge, der Aufk­lärung und Heilung über Maß­nah­men, die die Bevölkerung wie selb­stver­ständlich über­nom­men hat, haben dazu geführt, dass wir immer älter wer­den. Glück­licher­weise gab es darüber hin­aus schon lange keine Kriege mehr bei uns, viele ehe­mals tödliche Krankheit­en sind aus­gerot­tet, der Lebensstil der Men­schen hat sich geändert.

Die vier Lebensphasen

Das Ergeb­nis ist eine unheim­lich stark gestiegene Lebenser­wartung. Zwei Dat­en dazu: alle 24 Stun­den steigt unsere Lebenser­wartung um 6 Stun­den, nicht Minuten oder Sekun­den, es sind Stun­den. Und in Öster­re­ich gab es z.B. 1971 ins­ge­samt 54 Hun­dertjährige, jet­zt sind es bere­its 1350. Und die Lebenser­wartung steigt noch weit­er, kein Forsch­er prog­nos­tiziert eine Tren­dumkehr. All das hat bewirkt, dass Men­schen nach dem Auss­chei­den aus ihrer Beruf­stätigkeit in der Regel noch ein Vier­tel, manche sog­ar noch ein Drit­tel ihres Lebens vor sich haben. Mit anderen Worten: nach dem Beruf und vor dem, was wir aus der Ver­gan­gen­heit ken­nen, dem Ruh­e­s­tand, hat sich eine neue Phase „hineingeschoben“, die nach Ansicht viel­er in der Regel zwanzig und mehr Jahre dauern kann.

Was kann in diesen Jahren geschehen?

In dieser Zeit – zwis­chen 60 und 80 – kön­nen Men­schen noch fast alles bewe­gen: Sie kön­nen auf den Mont­blanc steigen, Marathon laufen oder eine Fir­ma grün­den. Wenn sie, und das ist entschei­dend, nicht auf ihr Geburts­da­tum blick­en und aus der Per­spek­tive des Rück­spiegels vielle­icht an den Groß­vater denken und sich so ver­hal­ten, wie sie ihn in Erin­nerung haben.

Es liegt nach der Beruf­stätigkeit also eine lange Lebenss­panne vor uns. Damit geht ein­her die bren­nende Frage: wie kann ich diese Zeit sin­ner­füllt gestal­ten? Jed­er Men­sch möchte am Ende seines Lebens zurück­blick­en und sagen kön­nen, mein Leben war sin­nvoll, ich kann darauf stolz sein. Ich habe in meinem Tun eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn meines Lebens gefunden.

Diese lange Lebenss­panne stellt die Frage, wie wir mit ihr umge­hen. Es gibt unzäh­lige Unter­suchun­gen, die beweisen, dass diejeni­gen, die nach dem Beruf­sleben nur noch genießen und sich scho­nen wollen, pro vor ihnen liegen­dem Leben­s­jahr zwei Monate ihres Lebens ver­schenken. Umgekehrt ist es nicht nur nach Ansicht viel­er Hirn­forsch­er sin­nvoll, sich zu fordern und ein­er Her­aus­forderung zu stellen, ja vielle­icht eine Vision für das eigene Leben zu haben.

Jüng­ste Umfra­gen zeigen, dass ger­ade in Öster­re­ich, wo dieses Denken dom­i­nant war, der Traum von der Früh­pen­sion für viele geplatzt ist: es ist nicht der Him­mel, son­dern oft­mals für viele das genaue Gegen­teil. Viele sagen heute laut, was früher nur im eng­sten Kreis angedeutet wurde, dass sie gerne etwas tun, etwas leis­ten, einen Beitrag für die Gesellschaft oder eine bes­timmte Per­so­n­en­gruppe leis­ten wür­den. Wenn, ja wenn sie wüssten, wo und wie. Wer diese neue Leben­sphase bewusst annimmt und nützt, tut nicht nur sich, son­dern auch anderen etwas Gutes. Diese Zeit ist wie geschaf­fen, etwas mit ihr zu unternehmen.

Der Schlüs­sel zu ein­er her­aus­fordern­den Tätigkeit sind die eige­nen Poten­ziale. Diese Poten­ziale sind teil­weise bekan­nt, aber viele weit­ere sind verdeckt oder ver­steckt. Denn im Laufe des Lebens haben viele Men­schen in unsere Entwick­lung einge­grif­f­en. Vielle­icht haben Ihre Eltern es gut gemeint und eine andere Vorstel­lung von Ihrer Zukun­ft gehabt wie Sie selb­st. Oder Lehrer haben Ihnen andere Fährten gelegt. Im eigentlichen Job haben Sie dann möglicher­weise Ver­führun­gen und Abzwei­gun­gen erlebt, je nach Bedarf im Unternehmen. Und auf diese Weise haben wir viele Poten­ziale schlum­mernd in uns, sie warten aber auf ihre Entdeckung.

Bei dieser Erkun­dungsreise zu den eige­nen Poten­zialen braucht man Men­schen: Part­ner, Fre­unde, Kol­le­gen, Vorge­set­zte oder Berater. Allein ist es schwierig, weil man sich mit dem, was man rasch gefun­den hat, zu schnell zufrieden gibt. Man muss länger dran­bleiben, tiefer gehen, bis man vielle­icht ein Bün­del von Tal­en­ten und Bedürfnis­sen ent­deckt hat, mit deren Kom­bi­na­tion man eine Her­aus­forderung, ein Ziel oder eine Vision konkretisieren kann. Es gibt schon Bil­dung­sein­rich­tun­gen für Erwach­sene, die Vorträge, Kurse und vielle­icht auch Arbeit­skreise anbi­eten, um latente Bedürfnisse und Poten­ziale zu ent­deck­en. Aber es soll­ten noch mehr sein. Alles ist in der Zeit der Fre­itätigkeit möglich, ehre­namtliche und bezahlte Tätigkeit­en. Mit der Beruf­stätigkeit verbindet dieses Wort nur den zweit­en Teil: tätig sein.

Wie find­et man eine sin­nvolle Her­aus­forderung? Eine Idee dabei kann die Frage sein: wer braucht mich? Vielle­icht ist diese Frage die sim­pel­ste Hil­festel­lung bei der Suche nach dem, was man Sinn des Lebens beze­ich­nen kann. Wir haben alle von der Gesellschaft mehr oder min­der viel erhal­ten, vom Kinder­garten bis zu einem Stu­di­en­ab­schluss, ganz zu schweigen davon, was die Gesellschaft für uns noch immer leis­tet, damit wir leben und uns bewe­gen kön­nen. Die Moti­va­tion auf die Frage, was kann ich jet­zt tun, kann sein, dieser Gesellschaft etwas zurück­geben zu wollen und zu kön­nen. Das suchen heute viele Men­schen, sie wis­sen aber oft­mals nicht, wie sie das bewälti­gen sollen. Durch­starten mit den eige­nen Potenzialen.

Eine repräsen­ta­tive, öster­re­ich­weite Umfrage von Seniors4success hat ergeben, dass 52.2 Prozent aller Befragten auf die Frage, ob sie eine staatlich organ­isierte Tätigkeit­en-Ver­mit­tlung für Pen­sion­is­ten sin­nvoll eracht­en, mit „ja, unbe­d­ingt“, geant­wortet haben. Und 49.6 Prozent kön­nen sich vorstellen, bezahlt oder ehre­namtlich tätig zu sein. Wenn es eine der­ar­tige Ver­mit­tlungs-Plat­tform gäbe.

In Öster­re­ich, einem Land, in dem viele Poten­ziale schlum­mern, kann es einen Auf­bruch geben, wenn Men­schen zeigen, dass man auch nach der Pen­sion­ierung nicht die Hänge­mat­te auf­suchen muss, son­dern etwas gestal­ten und bewe­gen kann.

Über den Autor

Dr. Leopold Stieger, Jahrgang 1939 und Autor des Buch­es „Pen­sion – Lust, oder Frust?“, hat in sein­er Pen­sion­szeit neu durchges­tartet und sich mit sein­er Plat­tform Seniors4success auf die Ziel­gruppe „Men­schen rund um die Pen­sion­ierung“ konzentriert.

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