Wir waren nie so abhängig

    Vor­bei am Freibad (hier parkt man noch im Feld daneben), den Berg hin­auf auf schmalen Straßen fol­gt man den Schildern „Maria Ebene”, ohne die man ver­loren wäre. Es öffnet sich ein wun­der­bar­er Blick auf das Rhein­tal und die umliegen­den Berge. In der kleinen Kapelle am Ende der Straße wird eine Hochzeit vor­bere­it­et. Daneben gibt sich dezent, völ­lig ruhig und abgeschieden das Kranken­haus Maria Ebene, wo man fre­undlich auf vorarl­berg­erisch begrüßt wird.

    Rauchen ist Killer Nummer eins

    Etwa 150 Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­er arbeit­en unter der Leitung von Pro­fes­sor Haller in der Stiftung Maria Ebene, dem Vorarl­berg­er Behand­lungszen­trum für Suchtkranke mit drei sta­tionären und mehreren ambu­lanten Ein­rich­tun­gen, mit zahlre­ichen Beratungsstellen und der ersten Präven­tion­sstelle für Suchtkranke in Öster­re­ich. Ein The­ma, das den Such­t­ex­perten derzeit beson­ders beschäftigt, ist das Rauchen, „unser Killer Num­mer eins und volks­ge­sund­heitlich derzeit der wichtig­ste Fak­tor”. So gibt es laut Haller jährlich etwa 200–300 Dro­gen­tote, etwa 2.500 bis 3.000 ster­ben an den Fol­gen des Alko­holmiss­brauchs und ca. 12.000 an den Fol­gen des Rauchens. „Mit den Anti­raucherbes­tim­mungen sind wir in Öster­re­ich im EU-Ver­gle­ich sehr weit hin­ten.” Auch andere Fak­toren spie­len hier mit. So wird beispiel­sweise sta­tionäre Raucher­en­twöh­nung bei uns nicht von der Krankenkasse bezahlt.

    Unfreiheit trotz Freiheit

    Ein weit­eres The­ma, das den Pri­mar derzeit beschäftigt, sind Ver­hal­tenssüchte generell, von der Spiel­sucht, Kauf­sucht, Arbeitssucht bis zur Inter­netab­hängigkeit. Dabei sieht er in vie­len Aspek­ten gegen­läu­fige, para­doxe Entwick­lun­gen: „In ein­er Gesellschaft, die größten Wert auf die Frei­heit legt tut man alles, um unfrei zu wer­den”. Man unter­wirft sich Zwän­gen, beg­ibt sich in Abhängigkeit­en. „Wir waren nie so abhängig obwohl wir gesagt haben, wir wären frei”, weiß der Such­t­ex­perte. Dies stimmt auch für die Enter­tain­ment- und Sicher­heits­ge­sellschaft:  „Trotz all den Events und dem Enter­tain­ment haben wir let­ztlich mehr Depres­sio­nen” und „wir leben in ein­er immer sicher­eren Gesellschaft und trotz­dem nehmen Ang­sterkrankun­gen zu.” Wie ein Gegen­reg­u­la­tiv treten hier psy­chis­che Störun­gen auf.

    Fanatismus oder Wahn?

    Als Gerichts- und Krim­i­nalpsy­chi­ater beschäfti­gen Rein­hard Haller das Maß und die Form von Tötungs­delin­quenz psy­chisch Kranker, meist bei tage­sak­tuellen Fällen, die man aus den Medi­en ken­nt. Das Spek­trum der von ihm analysierten Ver­brechen reicht dabei vom Sex­ual­mord, Bomben­bau, Inzest­tat bis hin zu Amok­lauf und Mas­sak­er. Dabei gilt es genaue Gren­zen zu ziehen zwis­chen Fanatismus und Wahn, Motive zu ergrün­den und Geschicht­en und Erfahrun­gen zu durchleuchten.

    „Fälle wie das Mas­sak­er in Nor­we­gen sind ein äußerst beun­ruhi­gen­des Phänomen in ein­er immer friedlich­er wer­den­den Welt. Die Nor­weger zeigen einen grandiosen Umgang mit der Katas­tro­phe”, lobt der Experte. „Während man bei uns immer nach den Schuldigen sucht und eine Ver­schär­fung der Maß­nah­men anord­net, reagieren die Nor­weger — richtig — mit noch mehr Tol­er­anz und Offenheit.”

    Gebrochene Tabus und ausgebliebene Durchbrüche

    Was Haller in let­zter Zeit in seinem Wirkungs­bere­ich pos­i­tiv über­rascht hat ist, dass psy­chis­che Störun­gen, die viele Jahre ver­drängt wor­den sind, jet­zt zunehmend ernst genom­men und gesellschaftlich anerkan­nt wer­den. „Psy­chis­che Prob­leme wer­den nicht mehr tabuisiert, nicht ver­drängt.” Beson­ders für Suchtkrankheit­en ist das eine große Entwicklung.

    Was die Medi­zin ange­ht, über­rascht den Psy­chi­ater, dass man bei manchen Krankheits­grup­pen in der Forschung und Ther­a­pie bish­er nicht schon weit­er gekom­men ist. „In Prog­nosen aus den 70er Jahren hat man geglaubt, man wird 2010 den Krebs besiegt haben. Davon ist die Medi­zin weit ent­fer­nt. Man meint, man könne Leid und Krankheit in den Griff bekom­men, find­et jedoch stets neue Krankheiten.”

    „Psy­chi­ater zu sein ist ein äußerst priv­i­legiert­er Beruf”, meint Haller, der die große Band­bre­ite des Fach­es beson­ders schätzt. Auch das Arbeit­en mit Suchterkrank­ten ist viel pos­i­tiv­er, als die meis­ten glauben. „Es geht um den Men­schen in aller Bre­ite, um Schick­sale, um Vielfalt; und aus den Begeg­nun­gen entste­hen oft tiefe Beziehun­gen für das ganze Leben”.

    Visionen, nicht Halluzinationen

    In der Poli­tik fehlt dem Psy­chi­ater das Charis­ma. „Per­sön­lichkeit­en, nicht Prinzip­i­en, brin­gen den Fortschritt der Gesellschaft”, ist Haller überzeugt. Doch lei­der wer­den allzu oft Visio­nen als Hal­luz­i­na­tio­nen abge­tan und neue Ideen als pathol­o­gisch bezeichnet.

    Beson­ders bedauert der Fam­i­lien­vater die Entwick­lung in der Bil­dungspoli­tik. In der nahegele­ge­nen Schweiz ver­ste­he man es ungle­ich bess­er, die Errun­gen­schaften ein­er Hochschule mul­ti­di­men­sion­al darzustellen und die Wichtigkeit von Ideen­fab­riken anzuerkennen.

    In der Aus­bil­dung der Medi­ziner­in­nen und Medi­zin­er sor­gen Haller die Auswahlver­fahren, die eine tech­nokratis­che Elite her­anziehen, die tech­nisch-kog­ni­tiv punk­tet. Das Emo­tionale und Soziale spielt dabei eine zu geringe Rolle, obwohl das bei Ärztin­nen und Ärzten zen­trale Eigen­schaften sind. „Bei so ein­er tech­nokratis­chen Elite, wer geht da noch als ein­fach­er Hausarzt in ein kleines Dorf?” macht Haller auf eine gefährliche Entwick­lung aufmerksam.

    Das Böse steckt in jeder und jedem

    Bei der Auseinan­der­set­zung mit dem Bösen aus der Sichtweise der foren­sis­chen Psy­chi­a­trie geste­ht Haller selb­stkri­tisch, dass man dadurch notge­drun­gen ein schlechteres Men­schen­bild bekommt. „Ver­brechen steckt in jedem Men­schen und unter bes­timmten Bedin­gun­gen kann das bei jed­er und jedem her­auskom­men.” Dabei spie­len eben die Motive eine zen­trale Rolle und die Kom­bi­na­tion von biol­o­gis­chen, psy­chol­o­gis­chen und sozi­ol­o­gis­chen Einflüssen.

    Der Funke der Vision

    „Das Volk braucht einen Ruck”, meint Haller. Die Öster­re­icherin­nen und Öster­re­ich­er soll­ten nicht trau­ma­tisiert und aus­ge­bran­nt sein, son­dern sich auch der Kräfte bewusst wer­den, vor­wärtss­chauen, nicht so viel jam­mern, nei­den, int­rigieren. Denn die „hun­gri­gen, jun­gen Großmächte” wie Chi­na, Indi­en, Indone­sien machen dem Experten Sorgen.

    „Prog­nosen sind schwierig, beson­ders wenn sie die Zukun­ft betr­e­f­fen”, zitiert Haller und sieht den Auf­trag für die ACADEMIA SUPERIOR in erster Lin­ie darin, Visio­nen zu entwick­eln und möglichst viele davon erfol­gre­ich auf Oberöster­re­ich zu über­tra­gen:  „Sterne set­zen und hof­fen, dass man ihnen fol­gt; denn die den Ster­nen fol­gen, kehren nicht um”.